Trucks

Gabor Szalo Hanna Degerman
2024-01-18
Technologie und Innovation Kraftstoffeffizienz
Authors
Gabor Szalo
Senior Engineering Specialist
Hanna Degerman
User Experience Product Planner

Der Unterschied zwischen dem Fahren mit Kamerasystem und mit Außenspiegeln

Das Fahren mit Außenspiegeln ist für die Fahrer seit jeher eine Selbstverständlichkeit. Seit einigen Jahren bieten aber verschiedene Hersteller stattdessen Kamerasysteme an. Wann und wo ist das sinnvoll und welche Vor- und Nachteile hat ein Kamerasystem im Vergleich zu Außenspiegeln?

Im Jahr 2016 haben die Vereinten Nationen eine Regelung erlassen, die den Einsatz von Kamerasystemen anstelle der Außenspiegel erlaubt. Einer der Vorteile ist die verbesserte Direktsicht, weil die Spiegel die Sicht des Fahrers nicht mehr beeinträchtigen.

Die Europäische Kommission schätzt, dass die kommende General Safety Regulation die Zahl der Unfälle reduzieren und bis 2038 hoffentlich über 25.000 Menschenleben retten und mindestens 140.000 schwere Verletzungen vermeiden wird. Kamerasysteme können zu diesen Zahlen beitragen, weil sie das direkte Blickfeld vergrößern. Der Hauptgrund für die Entwicklung von Kamerasystemen war jedoch die bessere Aerodynamik und die Möglichkeit, Kraftstoff und CO2-Emissionen einzusparen.


„Jeder möchte den Kraftstoff- oder Energieverbrauch senken. Da der Luftwiderstand mit den schlankeren Kameraeinheiten im Vergleich zu Außenspiegeln sinkt, wird die Energieeffizienz um bis zu 1,5 %* verbessert. Es muss aber stets beachtet werden, welche Lösung für den Kunden geeignet ist und sein Fahrererlebnis verbessert“, sagt Gabor Szalo, Senior Engineering Specialist für Visibility bei Volvo Trucks.

Der erste Lkw mit Kameras anstelle von Außenspiegeln wurde 2019 vorgestellt. Seitdem haben sich die technischen Möglichkeiten rasant weiterentwickelt. Mehrere Hersteller haben Lkw mit Kamerasystemen auf den Markt gebracht. Beschleunigt wird der Prozess durch die erwartete künftige Gesetzgebung. Bis 2029 wird die europäische General Safety Regulation (GSR) Direktsichtanforderungen für alle neu zugelassenen Lkw formulieren, um tote Winkel zu minimieren und die direkte Sicht der Fahrer aus dem Fahrzeug zu verbessern.

Abgesehen von den technischen Entwicklungen und kommenden gesetzlichen Vorschriften bringt das Fahren mit einem Kamerasystem anstelle von Außenspiegeln einige Herausforderungen und Einschränkungen mit sich. Zu berücksichtigen sind beispielsweise die folgenden Aspekte:

 

Vorteile des Fahrens mit einem Kamerasystem anstelle von Außenspiegeln

 

Aerodynamik:

  • Die Aerodynamik eines Lkw hat größten direkten Einfluss auf die Kraftstoffeffizienz und damit auf die Umweltbelastung. Da Kamerasysteme den Luftwiderstand im Vergleich zu herkömmlichen Außenspiegeln verringern, reduzieren sie den Kraftstoff- und Energieverbrauch.

Sicht und Sicherheit:

  • Mit einem Kamerasystem gibt es keine Außenspiegel, die dem Fahrer die Sicht versperren. Deshalb eignet es sich für komplexe Verkehrssituationen, wenn sich zum Beispiel gefährdete Verkehrsteilnehmer in der Nähe des Lkw aufhalten oder dieser in einen Kreisverkehr fährt, in dem Spiegel die Sicht des Fahrers beeinträchtigen.
  • Das Kamerasystem kann mit automatischer oder manueller Anhängerverfolgung ausgestattet werden, um Anhängerbewegungen zu beobachten und das Rückwärtsfahren zu erleichtern. Das sind Vorteile der digitalen Lösung, die ein herkömmlicher Außenspiegel nicht bietet.
  • Eine weitere Form der digitalen Unterstützung durch ein Kamerasystem sind integrierte Referenzlinien (beim Spurwechsel).
  • Mit herkömmlichen konvexen Spiegeln kommt es aufgrund des Spiegelradius zu einer gewissen Verzerrung. Ein Kamerasystem kann die Bildverzerrung korrigieren und dem Fahrer ein realistischeres Bild anzeigen.
  • Wenn der Fahrer schläft, kann die Überwachungsfunktion des Kamerasystems genutzt werden. Das System kann im Fahrerhaus aktiviert werden, ohne die Vorhänge zurückziehen zu müssen.
     

Wetter und Dunkelheit:

  • Bei Regen bietet eine Kamera normalerweise bessere Sicht, weil das Objektiv im Kameraarm besser geschützt werden kann. Noch wichtiger aber ist, dass sich der Bildschirm im Inneren des Fahrerhauses befindet und deutlich bessere Sicht bietet als ein nasser Spiegel, auf den durch eine ebenfalls regennasse Scheibe geblickt wird.
  • Das Kameraobjektiv lässt sich einfacher sauber halten als ein herkömmlicher Außenspiegel mit seiner größeren Glasfläche. Außerdem ist die Kamera in den meisten Fällen höher an der Außenseite des Lkw montiert und deshalb weniger Verunreinigungen ausgesetzt.
  • Bei Dunkelheit ist die Sicht mit Kameras und ihrem Vermögen, mit schlechten Lichtverhältnissen zurechtzukommen, besser als mit Spiegeln und verbessertem Nachtsichtmodus.
     

Einhaltung rechtlicher Vorgaben:

  • Weil die General Safety Regulation (GSR) 2029 direkte Sicht erforderlich macht, ist ein Kamerasystem wahrscheinlich vorzuziehen.
  • Fahrzeuge über 12 Tonnen müssen ab 2024 in London über eine Drei-Sterne-Bewertung der Direktsicht des Fahrers aus dem Fahrerhaus verfügen oder mit einer Reihe von Sicherheitssystemen ausgestattet sein. Das macht Lkw mit Kameras anstelle der Außenspiegel zur bevorzugten Lösung.

Herausforderungen des Fahrens mit einem Kamerasystem anstelle von Außenspiegeln

Sicht und Sicherheit:

  • Spiegel liefern ein dreidimensionales Bild, während Kamerasysteme zweidimensional arbeiten. Das fehlende räumliche Sehen mit der Einschätzung des Abstands und der Geschwindigkeit von Fahrzeugen, die sich von hinten nähern, kann eine gewisse Eingewöhnungszeit erforderlich machen.
  • Die Auflösung der Kamera kann zu einer schlechteren Abbildung als im Spiegel führen. Spiegel bieten exakt die Schärfe Ihrer Augen. Kameras sind dagegen mit einem Weitwinkelobjektiv und einem Bildschirm mit begrenzter Auflösung ausgestattet. Dies kann es Fahrer erschweren, den Abstand einzuschätzen. Die Wahl der Bildauflösung und der Bildschirmgröße sind daher wichtige Faktoren.
  • Die Bildschirme müssen so im Fahrerhaus platziert werden, dass keine neuen toten Winkel entstehen. Deshalb werden möglicherweise kleine Bildschirme verwendet, auf denen Objekte entsprechend klein dargestellt werden.
     

Reparaturen:

  • Ein Kamerasystem besteht aus Sensoren und Bildschirmen sowie einem Computer, der die Bilddarstellung steuert. Mögliche Schäden können kostspielig sein. Abhängig ist dies jedoch davon, welche Komponente ausgetauscht werden muss und ob dies von einer Servicevereinbarung abgedeckt ist.
     

Fahrerlebnis:

  • Der Blick auf ein zweidimensionales Bild auf dem Bildschirm unterscheidet sich vom Blick in den Außenspiegel. Derzeit sind mehr Fahrer an das Fahren mit herkömmlichen Außenspiegeln gewöhnt. Sie müssen sich also erst mit diesem neuen Fahrerlebnis vertraut machen.
  • Zudem müssen Fahrer sich mit den technischen Einstellungen und neuen Funktionen auseinandersetzen. Sie müssen Bestandteil der täglichen Routine der Fahrer werden, beim Manövrieren ebenso wie bei der Schätzung von Geschwindigkeit und Abständen sowie der Beurteilung der jeweiligen Umgebung.

Ihre Wahl – die Zukunft der Außenspiegel und Kamerasysteme

Sowohl Kamerasysteme als auch herkömmliche Spiegel haben Vor- und Nachteile. Das Fahrererlebnis ist mit Außenspiegeln anders als mit einem Kamerasystem. Zudem werden Fahrer wahrscheinlich unterschiedliche Vorlieben haben.

Die Übernahme der neuen Lösung wird in bestimmten Bereichen leichter fallen: So wird es Fahrern im Fernverkehr wahrscheinlich schneller gelingen, sich an ein Kamerasystem zu gewöhnen, als Fahrern im Stadtverkehr, bei dem es immer wieder auf die Einschätzung von Abständen und das räumliche Sehen ankommt und häufiger Rückwärtsfahrten erforderlich sind.

„Die Vorlieben können variieren. Das Ziel ist aber bei Kamerasystemen, die Bilddarstellung möglichst realistisch zu gestalten, um das bestmögliche Fahrererlebnis zu bieten. Für neue Fahrer werden Kameras zum Standard werden. Ihre Wahl ist also auch davon abhängig, wie offen Sie Änderungen und neuen digitalen Lösungen im Umfeld des Fahrers gegenüberstehen“, sagt Hanna Degerman, User Experience Product Planner bei Volvo Trucks.

Kjell Brunnström ist leitender Wissenschaftler bei RISE Research Institutes of Sweden und auf visuelle Wahrnehmung spezialisiert. Er ist der Überzeugung, dass Kameras in naher Zukunft üblicher und beliebter sein werden. Damit Kamerasysteme zur bevorzugten Wahl werden, sollten sie zudem um einige Funktionen ergänzt werden, damit sie für alle und für jedes Segment der Transportbranche geeignet sind.

„Derzeit ist das räumliche Sehen mit Kamerasystemen im Vergleich zu herkömmlichen Außen- oder Rückspiegeln schlechter. Eine Studie von RISE und Volvo Cars** zeigte jedoch, dass die schlechtere räumliche Wahrnehmung mit zusätzlichen grafischen Elementen teilweise kompensiert werden kann, die Abstände und gefährliche Objekte melden, und dem Fahrer helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.“

Die Technologie entwickelt sich in diesem Bereich rasant. Die Entscheidung für einen klassischen Außenspiegel oder ein Kamerasystem hängt von Ihren Vorlieben und vom Einsatzbereich ab. Zudem müssen Sie die betrieblichen Anforderungen ebenso wie die erforderliche Einhaltung gesetzlicher Vorgaben berücksichtigen. Auch die Vorlieben des Fahrers und seine Offenheit für veränderte Fahrerlebnisse sind zu beachten.


* Die tatsächliche Energieeinsparung kann in Abhängigkeit von vielen Faktoren wie der Fahrgeschwindigkeit, der Verwendung der Geschwindigkeitsregelanlage, der Fahrzeugspezifikation, der Zuladung, der tatsächlichen Topografie, der Erfahrung des Fahrers, der Fahrzeugwartung und den Wetterbedingungen variieren.

 

** Quelle: Zhang, M. und G. Bin. The effect of CMS with AR on driving performance. (diva2:1717225), RISE Research Institutes of Sweden, Chalmers University of Technology, M.Sc. These. 2022, verfügbar unter: http://urn.kb.se/resolve?urn=urn:nbn:se:ri:diva-61469